Folge 1
Von Frau Prof. Karin Kraft
Die Motivation für diese Artikelserie waren zwei Fragen, die sich aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre ergeben haben: 1. Was sind die Hintergründe für den großen Erfolg der Naturheilvereine Anfang des letzten Jahrhunderts? 2. Warum nimmt das Interesse der Bevölkerung an Naturheilvereinen in den letzten Jahren plötzlich so stark ab?
Beginn der industriellen Revolution
Zur Beantwortung der ersten Frage ist ein historischer Rückblick erforderlich. Mit der industriellen Revolution ab der ersten und insbesondere der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewannen in Europa Bewegungen an Kraft, die eine Rückkehr zu einer natürlicheren Lebensweise forderten. Der wichtigste frühe Vertreter dieser Bewegung war der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Die Feststellung „Alles was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen“, mit der er seinen 1762 erschienenen Erziehungsroman „Emile“ einleitete, fasst mit einem Satz Rousseaus Zivilisationskritik zusammen. Er forderte die Rücknahme der seit der Aufklärung stattfindenden Distanzierung des Menschen von der Natur, da durch deren Objektivierung ihre rücksichtlose Ausbeutung erleichtert wird. Der an der Humoralpathologie orientierten vorherrschenden Medizin, insbesondere den damals verfügbaren Arzneien, erteilte er eine Absage und forderte die Rückbesinnung auf die körpereigenen natürlichen Heilkräfte. Zu deren Unterstützung empfahl er insbesondere den Gebrauch von Wasser und Bädern. Objekt der Heilung war nicht die Krankheit selbst, sondern der Organismus in seiner Gesamtheit mit dem Ziel der Stärkung der Lebenskraft. Nach heutiger Sichtweise vertrat er somit den seit 1980er Jahren so genannten salutogenetischen Ansatz.
Die Entwicklung in der universitären Medizin des 19. Jahrhunderts
In den deutschsprachigen Ländern stellte sich die Medizin an den Universitäten seit den 1840er Jahren im Rahmen ihrer zunehmenden Professionalisierung naturwissenschaftlich auf, d.h. die Medizin sollte sich auf erwiesene Tatsachen stützen anstatt sich – wie bisher – in naturphilosophischen Spekulationen ergehen. Diese Entwicklung führte bisweilen dazu, dass die Ärzte die PatientInnen nicht mehr als Menschen wahrnahmen, sondern sie auf ihre Symptome reduzierten (woraus in neuerer Zeit die Diagnosen entstanden). Diese Entwicklung wurde durch die Entstehung der Sprechstundenpraxis verstärkt, wodurch der Arzt das persönliche Umfeld des/r Kranken nicht mehr kennenlernte und daher nicht mehr berücksichtigen konnte. In dieser Zeit waren die häufigsten Krankheiten Infektionen (insbesondere Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Cholera und andere Epidemien), Verletzungen (Unfälle, Kriege), Suchterkrankungen (Alkoholismus, Morphinismus) und Gicht (unter der der gesamte rheumatische Formenkreis subsummiert wurde). Die Lebenserwartung war gering, auch wegen der hohen Kindersterblichkeit. Die verfügbaren Arzneimittel waren selten wirksam, dafür hatten sie oft schwere Nebenwirkungen (man denke z. B. an die Quecksilberschmierkur bei der weit verbreiteten Syphilis). Der „therapeutische Nihilismus“ war in der konventionellen Medizin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deshalb als grundlegende Einstellung weit verbreitet.
Von der Wasserheilanstalt zur Naturheilanstalt
Diese Konstellation erklärt den Erfolg der Wasserheilanstalten, die in vielen der 39 Länder entstanden, die sich nach den Befreiungskriegen zum Deutschen Bund zusammengeschlossen hatten. In ihnen wurde mehr oder oft auch weniger kompetent eine Kaltwasserbehandlung nach dem außerordentlich erfolgreichen Modell von Vinzenz Prießnitz durchgeführt. Sie wurden zunächst von medizinischen Laien betrieben und vornehmlich durch Gesellschaftskreise aufgesucht, die sich eine oft über Wochen dauernde derartige Kur leisten konnten. Eine weitere Voraussetzung war ein gewisser Bildungsgrad, der es ermöglichte, die Heilkraft des Wassers anzuerkennen und richtig zu nutzen, d.h. vor allem Kleriker, Militärangehörige, Künstler und einen Heilberuf Ausübende, die eine Universität besucht hatten. Die Betreiber wurden, weil die universitäre Medizin Vorurteile gegenüber diesem Verfahren hegte, oft als Kurpfuscher bezeichnet, zudem waren die Genehmigungsverfahren langwierig und oft von der entsprechenden Einstellung des jeweiligen Landesfürsten abhängig. Ab den 1840er Jahren wurden diese Wasserheilanstalten zwar zunehmend von Ärzten geleitetet, die ablehnende Einstellung der damaligen universitären Medizin änderte sich aber kaum. Ab dieser Zeit wurde Wasser zunehmend in jeder möglichen Form und Temperatur angewandt, hinzu kamen Licht, Luft, Sonne und verschiedene Ernährungsformen, z. B. vegetarische Kost. Im Jahr 1838 wurde in Mühlau bei Innsbruck die erste „Natur-Heilanstalt“ gegründet. Um das Jahr 1850 existierten in den Ländern des Deutschen Bundes bereits ca. 60 derartige Anstalten.
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