Dr. Matthias Jung, Gestalttherapeut am „Dr. Max-Otto-Bruker-Haus“ in Lahnstein, bekannter Referent und Autor von über 60 Büchern nahm die Zuhörer im Hamelner Hefehof mit auf eine temperamentvolle Reise durch unsere Moderne, in der der Schlachtruf „Keine Zeit!“ zum guten Ton gehört.
Dr. Jung machte auf anschauliche Weise deutlich, wie sich die Lebenseinstellung „Keine Zeit!“ auf die Menschen heute auswirkt. Nicht nur ist der „Burnout“ als ein Ausdruck der Zeitnot eine der häufigsten Erkrankungen der letzten Jahre, auch unser Lebensglück geht im Zeitmangel verloren. Ist man heute noch von Herzen glücklich? Oder sagt man eher „Eigentlich geht es mir ganz gut“? Werden wir uns am Lebensende darüber ärgern, dass wir nicht genug Zeit im Büro verbracht haben?
Matthias Jung erläuterte an Beispielen aus seiner therapeutischen Praxis, wie wichtig es für die Menschen ist Zeit zu haben: Zeit für Beziehungen, Gespräche, für Spiele, für Lesen und Lernen, und auch genug Zeit für die Liebe.
Doch warum lassen sich immer mehr Menschen ohne Atempausen durch´s Leben jagen? Dr. Jung sieht als Ursachen typische psychische Strukturen die durch unsere Erziehung noch gefördert wurden: Das Helfersyndrom (Wer soll es denn machen, wenn nicht ich?) und den Minderwertigkeitskomplex (Ich werde nur geliebt, wenn ich genug leiste.)
Als Hauptgrund für die ungeheure Hetze der heutigen Zeit sieht Dr. Jung aber die digitalen Medien, die er als „gewaltigen Zerstreuungsapparat“ bezeichnet. Niemand muss sich mehr mit Dingen intensiv auseinandersetzen, sich anstrengen und bemühen. Immer ist die Möglichkeit der Unterhaltung und Zerstreuung da, und so verbringen viele Menschen heute einen Großteil ihrer wachen Zeit im Internet. Dabei kommen sie sich, so Matthias Jung, „selbst abhanden“, das Gehirn kann sich nicht mehr erholen und die Folgen sind Schlafstörungen und Erkrankungen bis hin zum Burnout.
Doch warum gehen die Menschen heute in eine solche Maßlosigkeit? Dr. Matthias Jung erläuterte dafür zwei Ursachen. Durch die Messbarkeit der Zeit – im 16. Jahrhundert gab es die ersten Kirchturmuhren – und der sich zu einer Arbeitsteiligkeit hin verändernden Welt konnten die Menschen nicht mehr dem Rhythmus der Natur folgen, sondern mussten ihre Arbeitszeit und damit ihre Lebenszeit wie eine Ware verkaufen. In einer christlich geprägten Welt lebten die Menschen auf das Jenseits hin, das eigentliche „ewige“ Leben kam nach dem Tod. In einer säkularisierten Gesellschaft wie der unseren fehlt dieser Glaube, damit wird die Lebenszeit knapp, ein Danach gibt es nicht. Die Menschen geraten dadurch in einen ungeheuren Druck, alles erleben zu müssen und nichts verpassen zu dürfen, nicht zuletzt, weil sie den Gedanken an die eigene Endlichkeit nicht ertragen können.
Dr. Matthias Jung beendete seinen Vortrag mit einem Zitat aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse: Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Bericht: Astrid Sebastian, 2. Vors. NHV Weserbergland
Foto: Rudolph Wedekind